Blog · 12.02.2019 · Julia Straub

Organisationsentwicklung muss im Alltag stattfinden und wirken

Organisationsentwicklung muss im Alltag stattfinden und wirken

Das Verständnis von Change, das Organisationen seit Jahrzehnten prägt, ist aufwendig, ineffektiv und frustrierend. Und so sind alle froh, wenn „der Change“ vorbei ist. Was aber, wenn der Change- und Weiterentwicklungsbedarf niemals gestillt ist? Change muss aus dem Projektmodus raus. Dafür müssen Organisationen lernen, wie sie sich selbst täglich in ihrem Alltag weiterentwickeln. Wie dies gelingen kann und welche Hürden es dabei zu überwinden gilt, beschreibt Julia in diesem Artikel.

Seit vielen Jahren begleite ich Organisationen und Teams in ihrer Weiterentwicklung. Dabei begegnen mir immer mehr Change-Expert*innen auf Kundenseite. Sie haben eine Vielzahl an Change-Projekten miterlebt, sie kennen unzählige Methoden und haben enormes Wissen darüber angesammelt, wie „man“ Change organisiert. Das ist beeindruckend zu sehen und ein wichtiger erster Schritt, denn Organisationen brauchen mehr Veränderungsexpertise. Was vielen allerdings noch fehlt, sind der Freiraum, der Mut und die Fähigkeit, selbst wirksame Veränderung anzustoßen — ohne Projekt, täglich und immer wieder im eigenen Alltag.

Klassischer Change ist ineffektiv und frustrierend

Klassischer Change ist Projektgeschäft. Er hat ein Start- und ein Enddatum sowie ein gewünschtes Ergebnis, das irgendwann implementiert wird (Roll-out). Dieser Change wird mit viel Aufwand betrieben und in den meisten Organisationen als Add-on empfunden, also als Zusatzbelastung für Mitarbeiter*innen und Führungskräfte. Die Wahrnehmung ist: Change hält die Menschen von ihrer „eigentlichen“, sprich der wertstiftenden Arbeit ab. Deshalb wird die Change-Verantwortung delegiert — an Berater*innen, an HR-Abteilungen, an Change Agents. Vom Vorstand beginnend versucht jede/r mit möglichst wenig Zeitaufwand durch den Prozess zu kommen. Vielleicht auch deshalb, weil der nachhaltige persönliche und organisationale Mehrwert solcher Change-Projekte in der Praxis oft überschaubar ist. Das Verständnis von Change, das Organisationen seit Jahrzehnten prägt, ist aufwendig, ineffektiv und frustrierend. Und so sind alle froh, wenn „der Change“ vorbei ist.

Was aber, wenn der Change- und Weiterentwicklungsbedarf niemals gestillt ist? Wir leben in einer Welt, die rasant an Dynamik, Komplexität und Instabilität zunimmt. Die meisten Organisationen merken dies daran, dass sie ihre Probleme nicht mehr mit bewährten Mitteln lösen können. Es kommen zum Beispiel immer neue, unerwartete Anbieter auf den Markt, die in deutlich kürzeren Zyklen Lösungen entwickeln. Die eigene Wettbewerbsposition ist spürbar volatiler als früher und es fällt immer schwerer, unternehmerisch den Anschluss an die Spitze zu halten. Nach innen geschaut finden zunehmend mehrere Transformationsprozesse parallel statt, sie überholen sich gegenseitig. Die Mitarbeiter*innen suchen Orientierung und fragen immer häufiger, wofür die Organisation künftig noch stehen soll. Gleichzeitig produzieren Zielbild- und Strategieprozesse kaum noch spürbare Wirkung.

Anpassungsfähigkeit als Kernaufgabe und als zentrale Herausforderung

Die größte Aufgabe einer Organisation besteht heute nicht mehr darin, effizienter zu werden, sondern anpassungsfähig zu sein. Es geht darum, dauerhaft im Spiel zu bleiben. Den intensivsten Wettbewerb führt die Organisation dabei mit sich selbst; sie versucht, jeden Tag ein Stück besser zu werden, wirksamer zusammenzuarbeiten, um gemeinsam mit der Welt wachsen zu können. Dafür braucht es ein anderes Veränderungs­verständnis: Change muss aus dem Projektmodus heraus. Die eigene fortwährende evolutionäre Weiterentwicklung wird zur Kernaufgabe von Organisationen im 21. Jahrhundert. Wenn Organisations­entwicklung wirksam sein soll, dann geht sie alle in der Organisation an und geschieht jeden Tag — im Alltag.

Diese Kernaufgabe ist in klassisch aufgestellten Organisationen in der Regel mit einigen Hürden verbunden:

Hürde 1: Organisationen haben verlernt, souverän mit Unsicherheit umzugehen

Die Vorstellung von einer kontinuierlichen Weiterentwicklung macht vielen Menschen Angst, denn sie vermittelt ihnen das Gefühl von Unsicherheit und Instabilität. Dabei sind „Sicherheit“ und „Stabilität“ zentrale Werte, die insbesondere große Organisationen traditionell hochhalten. Sie haben starke Strukturen und Prozesse entwickelt, um den Menschen diese Werte zu vermitteln. Damit haben sie zugleich abtrainiert oder gemeinsam verlernt, mit Unsicherheit, mit einem Wechsel aus Hochs und Tiefs souverän umzugehen. Die bewährten Sicherheitsanker funktionieren in einer komplexen und dynamischen Welt nicht mehr, Organisationen brauchen heute andere Strategien, um Unsicherheit souverän zu begegnen, u.a. durch eine zunehmende interne Vernetzung und eigenes fortwährendes Wachsen.

Hürde 2: Das gängige Change-Verständnis zielt auf Fehlerbehebung statt auf Chancen-Aktivierung

Eine weitere Hürde auf dem Weg zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung ist die gängige Perspektive auf Veränderung. Wir haben gelernt, dass Veränderung immer dann notwendig ist, wenn ein Fehler oder ein Manko entdeckt wurde. Dieses Verständnis sitzt tief und führt dazu, dass viele Menschen Veränderung mit Schuld und Scham verbinden. „Wir müssen uns ändern, weil wir bislang etwas falsch gemacht haben oder nicht gut genug waren.“ Also: Defizitorientierung statt Kompetenz- und Chancenaktivierung. Sich jeden Tag weiterzuentwickeln bedeutet aber nicht, dass vorher alles unzureichend war. Es bedeutet schlichtweg, dass Lernen heute anders möglich ist als gestern.

Hürde 3: Iteration wird als ineffizient wahrgenommen und Unfertiges als Schwäche

Wir haben gelernt, dass es wichtig ist, Themen zeitnah und ein für alle Mal zu klären, weil es ineffizient ist, sie immer wieder zu betrachten. Also: Abhaken statt Machen, Reflektieren und Weiterentwickeln. Und wir haben gelernt, dass man Ergebnisse erst dann kommuniziert, wenn sie final, also perfekt sind. Also: Perfektionswahn statt iterativer Verbesserung. Wenn Organisationen sich kontinuierlich weiterentwickeln wollen, müssen sie umlernen und Ergebnisse als Zwischenstände begreifen, die durch Austausch und Ausprobieren auf faszinierende Weise reifen.

Hürde 4: Glaubenssätze und Muster wirken als Entwicklungsblocker

Bei dem Versuch in eine evolutionäre Organisationsentwicklung umzuschwenken, offenbaren viele Organisationen ihre Glaubenssätze und Muster: „Wir haben keine Zeit für Reflexion, unsere Kalender sind komplett dicht.“ „Wir können den Mitarbeitern nicht zumuten, sich immer wieder auf etwas Neues einzustellen, das überfordert sie.“ „Das Thema ist vom Vorstand verabschiedet, das können wir nicht wieder aufmachen.“ „Wir sind Marktführer und wenn wir uns mehr anstrengen, bleiben wir das auch.“ Oder auch: „Wir haben JETZT ein Change-Budget, das müssen wir zügig ausgeben.“

Diese Glaubenssätze sind Killer-Sätze, denn sie verhindern, dass anders gedacht und gehandelt werden kann. Das im letzten Beispielsatz angesprochene Budget-Thema würde sich bei einem evolutionären Organisationsentwicklungsansatz übrigens von selbst erledigen. Denn wenn Organisationen, Teams und Mitarbeiter*innen lernen, wie sie Weiterentwicklung in ihrem Alltag selbst anstoßen und bewirken können, brauchen sie keine Horden an externen Berater*innen und monströse Projektbudgets mehr. Ein Kunde (Bereichsleiter einer Bank) hat neulich in einem großen Transformationsprojekt gesagt: „Wir sind mit unserem Vorhaben dann erfolgreich gewesen, wenn wir keine Change-Programme mehr brauchen, um uns weiterzuentwickeln.“ So sehe ich das auch. Das heißt für uns auch: Wir sind als externe Begleiter dann erfolgreich, wenn sich diese Perspektive im Markt durchsetzt.

Fünf Grundlagen für den Start

Wenn wir Menschen, Teams und Organisationen begleiten, sensibilisieren wir dafür, dass wir eine Bewegung anstoßen, die nicht mit unserem Mandat endet. Wir begleiten und befähigen zum Umdenken und zur Weiter­entwicklung aus eigener Kraft — also zur Selbstwirksamkeit von Einzelnen und Kollektiven. Für den Start braucht es nicht viel:

  1. Ein couragiertes Team: Eine Gruppe mutiger und engagierter Menschen in der Organisation, die sich selbst und die Organisation weiterentwickeln möchten und bereit sind, gemeinsam loszulegen.
  2. Collaborative Leadership: Führungskräfte, die sich selbst und ihren Kolleg*innen vertrauen, die den Weg frei machen und Anderen den Rücken stärken.
  3. Sinnstiftende Orientierung: Einen gemeinsamen Antrieb, einen Purpose, der greifbar macht, wofür sich alle in der Organisation engagieren und welche Vorstellung von der Zukunft sie verbindet und motiviert.
  4. Entwicklungsraum: Räume, Zeit und die Bereitschaft zur Selbstreflexion und zum individuellen und kollektiven Lernen als essentielle Grundlage für evolutionäres Wachsen.
  5. Ein reales Spielfeld: Ein konkretes Thema, das unternehmerisch hoch relevant ist, und die Chance, daran erlebbar zu machen, wie wirksame Zusammenarbeit zum Game Changer wird.

Mit diesen fünf Grundlagen haben wir eine Vielzahl an Entwicklungsreisen mit angestoßen und vorangetrieben. Dabei waren die Spielfelder sehr unterschiedlich: Mehr Kundenorientierung, schnellere Innovation, Produktentwicklung mit Kooperationspartnern, wankende Großprojekte, ein Strategieprozess mit mehr als 35 Einzelgesellschaften oder eine Teamentwicklung im HR-Bereich.

Es gilt wirksamer zusammenzuarbeiten als bislang, auf dem Weg zu lernen und zu wachsen. Organisationsentwicklung im Alltag braucht keine Millionenbudgets und keine Masterpläne, sie erfordert den Mut loszulegen — und die Entschlossenheit dranzubleiben. Denn: Die kontinuierliche Weiterentwicklung aus eigener Kraft ist kein Sprint, sie ist ein Dauerlauf — es gibt zehrende und nährende Zeiten und beide gilt es klug zu nutzen.


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