Blog · 03.03.2020

Vom Nutzen der Zweckfreiheit

Vom Nutzen der Zweckfreiheit

Um aktuellen Herausforderungen zu begegnen, setzen Organisationen zunehmend auf Formate und Methoden, die sich künstlerischer Aspekte bedienen. Das Ziel: Neben der Ratio sollen auch Erleben, Gefühl und Emotionalität Raum finden und so neue Perspektiven berücksichtigt werden. Dabei bewegen sich Organisationen immer im Spannungsfeld zwischen „angeborener“ Nutzenorientierung („Wofür machen wir das?“) und der grundsätzlichen Zweckfreiheit der Kunst: Kunst muss auf die Frage nach dem „Wofür“ keine Antwort liefern — sie verwehrt sich dieser Frage sogar. Wie können Unternehmen dieses Spannungsfeld für sich gewinnbringend nutzen, um wirkungsvolle Weiterentwicklung anzustoßen?

Text: Michael J. Müller

Kunst in der Organisationsberatung

Sind Organisationen heute noch rein rational beherrschbar? Wie kann ein Umgang mit den rasanten und schwer zu kontrollierenden Veränderungen in Gesellschaft, Technologie und Markt gestaltet werden? Welche Herausforderungen entstehen dadurch? Diese Fragen treiben Organisationen heute um, denn …

  • … Menschen verlangen von den Organisationen, in denen sie arbeiten, heute mehr als nur die Auszahlung des monatlichen Gehalts. Arbeit soll Sinn machen, erfüllend sein und einen Beitrag leisten
  • … die Digitalisierung fordert, Arbeit neu zu denken
  • … die Turbulenz der Märkte verlangt schnelle Reaktionen.

Im Umgang mit diesen Herausforderungen gehen Organisationen seit einigen Jahren zunehmend neue Wege. Sie testen Formen und Methoden, die nicht allein die Ratio ansprechen sollen, sondern die auf Erleben, Gefühl und Emotionalität setzen. Oft ähneln diese Ansätze in ihrer Art und Weise künstlerischer Arbeit. Oft sind auch Künstler*innen selbst Teil der Interventionen. Diese Impulse aus der Kunst haben das methodische Setting in der Organisationsberatung bereichert. Das ist grundsätzlich begrüßenswert, weil so neue Facetten wirkungsvoller Veränderungsbegleitung hinzukommen und ein ganzheitlicher Ansatz für Menschen in Veränderung möglich wird. Jedoch liegt in der Begegnung zwischen Kunst und Unternehmenswelt ein grundsätzlicher Widerspruch: Die Zweckfreiheit der Kunst und die Nutzenorientierung von Organisationen in der Unternehmenswelt. Was meine ich damit?

Zweckfreiheit der Kunst versus Nutzenorientierung der Unternehmenswelt

Kunst ist zweckfrei. Die Welt, in der wir als Organisationsberatung arbeiten, folgt dagegen einem klaren Nutzenanspruch. Ein zweckfreies Handeln hat hier zunächst keinen Sinn. In der Organisationsberatung geht es letztlich darum, Organisationen beweglich und erfolgreich machen. Unternehmen folgen in ihrem Tun einer klar definierten Zweckmäßigkeit, sie haben eine bestimmte Absichtlichkeit.

Aus künstlerischer Perspektive ist dies etwa vergleichbar mit dem Unterschied zwischen dem Design eines Haushaltsgerätes und einem Gemälde. Das Gemälde wirkt auf seine Betrachter*innen, es ist in der Welt, um Gefühle hervorzurufen, das Haushaltsgerät dagegen hat einen klaren Zweck und ist primär nützlich.

So muss sich der Einsatz von Kunst oder kunstverwandten Praktiken im Unternehmenskontext der Frage stellen: „Was haben wir denn davon, wenn wir das machen?“. Genau an diesem Punkt prallen Kunst- und Unternehmenswelt hart aufeinander. Kunst verwehrt sich der Beantwortung dieser Frage und Unternehmen verwehren sich irgendetwas zu tun, das keinen Nutzen bringt. So weit so klar. Trotz dieser Widersprüchlichkeit und Unvereinbarkeit dieser beiden Welten gibt es dennoch Begegnungen von Kunst, von Künstler*innen und ihren Praktiken mit Menschen, Teams und Organisationen. Ein Blick auf Formen dieser Begegnungen zeigt jedoch, dass „Aufweichungen“ des jeweils eigenen Standpunkts stattfinden, um in eine Annäherung zu kommen. Damit passt sich Kunst an, um in Unternehmen Raum zu finden; sie schraubt sich auf ein für das Unternehmen erträgliches Niveau herunter. Parallel öffnen sich Unternehmen und die Menschen darin, verlassen ihre Komfortzone, um sich auf die Kunst einzulassen.

Wie Kunst heruntergeschraubt wird und die Komfortzone verlassen wird

Verbunden mit diesen „Aufweichungen“ des eigenen Standpunktes sind zwei Fragen:

  1. Wie kann Kunst ihre Zweckfreiheit behaupten?
  2. Wie findet von Seite der Unternehmen ein Schritt aus der Komfortzone statt?

Um diesen Fragen nachzugehen, schildere ich zunächst zwei Beispiele aus der Praxis:

Beispiel 1: Unternehmenstheater

Das Unternehmenstheater bebildert auf unterschiedlichen Ebenen Situationen aus dem Arbeitsalltag. Theatermacher*innen kommen in Unternehmen und spielen potentielle Konfliktsituationen in Teams oder zu erwartende Hürden in Veränderungsprozessen entweder selbst oder mit den beteiligten Menschen nach. Der Lerneffekt liegt dabei darin, dass die Teilnehmer*innen durch das Ausprobieren oder Betrachten bestimmter Alltagssituationen risikofrei sich selbst bzw. die Teamperformance in potentieller Verbesserung erleben können. Das ist bestimmt sinnvoll, jedoch hat dies mit Kunst wenig zu tun. Das Handwerkliche der Kunst wird unter einem klar definierten Zweck genutzt.

Beispiel 2: Gestalterisches Arbeiten

Ein zweites Beispiel sind jegliche Formen von gestalterischen Praktiken. Diese reichen von skulpturalem Arbeiten mit unterschiedlichen Werkstoffen, über Malerei bis hin zu Installationen im Raum. Hierbei ist das Grundziel, sich einer bestimmten Fragestellung metaphorisch zu nähern und diese im Nachgang zu reflektieren. Leitende Fragen dabei könnten sein: „Wenn Du an die Zukunft Deines Teams denkst, welche

Bilder kommen dir in den Kopf? Oder: „Wenn Du an die Zukunft Deines Unternehmens denkst, wie sieht es in zehn Jahren aus?“ Diese Form der Visualisierung von Zukunftsbildern kann sehr wirkungsvoll sein. Diese Praktiken werden an dem Punkt „künstlerisch“, an dem die agierenden Personen sich auf den Prozess des Deutens bzw. Deuten-Lassens ihre Werke einlassen. Die Herausforderung für viele Menschen liegt in diesem Falle darin, Wahrnehmungen und Eindrücke, die nicht greifbar oder belegbar sind, zu äußern. Denn wie eingangs bereits beschrieben sind Menschen in Organisationen oft darauf getrimmt, der Ratio und dem Verstehen Vorrang zu geben. Kunst bietet hier quasi ein Vokabular.

Nutzen für Kunst und Unternehmen durch die Hintertür der Zweckfreiheit

Diese beiden Bespiele zeigen zum einen wie wirkungsvoll der Einsatz von künstlerischen Praktiken sein kann und wie schwer parallel das Loslassen einer konkreten Nutzenorientierung ist. Allein: Sie sind eigentlich noch keine Kunst im wahren Sinne. Das ist zunächst nicht weiter dramatisch — doch was würde zusätzlich möglich, …

  • … wenn es gelänge, sich für eine bestimmte Zeit von der Nutzenorientierung frei zu machen?
  • … wenn die Komfortzone kurzfristig radikaler verlassen würde?

Beispiel 3: Das gemeinsame Kunstwerk

Ein drittes Beispiel haben wir von covolution gemeinsam mit Künstler*innen umgesetzt. Anlass war ein Teamtag und die Frage, wie sich das Team trotz räumlicher und sprachlicher Grenzen als ein Team verstehen kann. Diese „Hidden Agenda“ wurde jedoch zunächst nicht explizit gemacht, auf der Tagesordnung stand:

  1. Gestaltet gemeinsam ein Kunstwerk
  2. Präsentiert das Kunstwerk
  3. Feiert gemeinsam Euer Ergebnis

Mit diesen Arbeitsaufträgen schickten wir die Gruppe in einen Suchprozess. Als Material für das Werk gab es Fotografien, die die Teilnehmenden im Vorfeld zu bestimmten Begriffen angefertigt hatten, zum Beispiel: Dein Lieblingsort, ein Geheimplatz, Angst, Verbindung, Struktur, ein vergessener Ort. Und Theatertexte, die sich an diesen Begriffen anlehnten. In verschiedenen Gruppen und begleitet durch ein Team aus Organisationsberater*innen und Künstler*innen, näherte sich das Team zunächst den Materialien: Die Teilnehmer*innen diskutierten über die Fotos, sortierten und clusterten diese. Außerdem brachten sie die Theatertexte, die von Shakespeare, über Kleist bis hin zu Heiner Müller reichten, ins Leben, indem sie nach spielbaren Situationen für diese Texte suchten. So entstand durch die Bearbeitung des vorhandenen Materials neues und eigenes Material, das im Anschluss vom gesamten Team zu einem gemeinsamen Kunstwerk — einer etwa 15-minütigen Performance aus Text, Bild und Raum — verdichtet wurde.

Eindrucksvoll war jedoch nicht allein das künstlerische Ergebnis des Tages, sondern vor allem der Weg dahin. Die radikale Setzung in der Agenda rief zunächst radikale Reaktionen hervor: Unsicherheit, Irritation, Ratlosigkeit, Widerstand. Doch aus der Gruppe heraus begann nun ein spannender Prozess des Suchens, den wir immer wieder parallel explizit machten und gemeinsam mit der Gruppe reflektierten. Der Suchprozess für das Team gestaltete sich entlang der Fragen „Was tun wir jetzt?“ und „Wie kommen wir zu diesem Kunstwerk?“. Diese Suchbewegungen ließen im Team Fragen aufkommen, die zum einen für die Entwicklung des gemeinsamen Werkes relevant bzw. absolut notwendig waren und gleichzeitig sehr treffsicher die Themen und Fragestellungen des Teams als Arbeitsteam aufs Tableau brachten.

So formulierte die Gruppe im Prozess:

  • Woran richten wir uns aus?
  • Was wollen wir (über uns) erzählen?
  • Wie kommen wir mit dieser Unsicherheit jetzt klar?
  • Wie kann sich jede*r von uns einbringen?

Im aktiven Tun beantworteten sie diese Fragen, um ein gemeinsames Kunstwerk zu schaffen. In der abschließenden Tages-Reflexion fand das Team für sich heraus, dass durch die künstlerische Arbeit Dinge besprechbar wurden, die sonst im Arbeitsalltag keinen Raum finden — beispielsweise die Notwendigkeit einer klaren Ausrichtung („Purpose“).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Erkenntnisdichte des Teams an diesem Tag besonders hoch war. Das Potenzial des Teams, mit unsicheren Settings klar zu kommen und gemeinsam nach Halt zu suchen, rückte plastisch in den Vordergrund. Das Team hat für sich die Notwendigkeit entdeckt, die Zukunftsfrage zu stellen und damit letztlich für das Unternehmen und sich selbst einen großen Nutzen zu schaffen. Durch radikale Zweckfreiheit in der Tagesgestaltung öffnete sich das Team stärker, als dies in einem klar abgegrenzten Setting möglich gewesen wäre. Der schwere Schritt aus der Komfortzone konnte durch die Maske „Kunst“ mutiger gegangen werden und überraschte in seiner Tragweite die gesamte Gruppe. Ein spielerischer Umgang mit dem Widerspruch der Zweckfreiheit der Kunst und der Nutzenorientierung von Organisationen in der Unternehmenswelt kann große Wirkung entfalten. Die Radikalität, die in der Begegnung von Kunst und Organisationswelt liegen kann, ermöglicht ein Loslassen, wenn es darum geht Neues zu denken und Herangehensweisen zu probieren die Alternativen zur rationalen Beherrschbarkeit bieten.

Erfolgskritisch ist hierbei die enge Begleitung dieses Prozesses durch Intermediäre, also durch Personen, die zwischen Kunst- und Organisationswelt vermitteln können und die den Raum für Reflexion offen halten.


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Zum Autor: Michael J. Müller ist Organisationsberater bei covolution. Zuvor initiierte und entwickelte er als Kulturagent neue Netzwerke und Kollaborationsformen im Kultur- und Bildungsbereich. Vor seinem Studium der Kultur- und Wirtschaftswissenschaften sowie Aus- und Weiterbildungen u.a. in systemischer Organisationsentwicklung und Moderation, arbeitete Michael sieben Jahre am Theater. Als erfahrener Theatermacher schafft Michael Raum und hält Präsenz für Menschen und ihre Themen. Er hat Freude daran, mit Kunden zu improvisieren und gemeinsam neue und ungewohnte Lösungen zu entdecken.