Blog · 18.06.2025 · Sören Krüger

Szenarien als Weg aus der strategischen Schockstarre – mit unternehmerischer Ungewissheit bewusst umgehen

Szenarien als Weg aus der strategischen Schockstarre – mit unternehmerischer Ungewissheit bewusst umgehen

Nirgends ist die wirtschaftliche Unsicherheit derzeit so groß wie in Deutschland, urteilte im Mai 2025 das manager magazin.[1] Es bezog sich dabei auf den „Economic Policy Uncertainty“ Index, der die Unsicherheit misst, die durch wirtschaftspolitische Entscheidungen oder deren Unklarheit entsteht. In diesem weltweiten Ranking steht Deutschland aktuell auf dem ersten Platz und weist deutlich höhere Werte auf als seine europäischen Nachbarn. Das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) geht davon aus, dass sich die Verunsicherung auch maßgeblich negativ auf das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands auswirkt.[2]

Und in der Tat:  In vielen deutschen Unternehmen herrscht momentan große Verunsicherung, mancherorts auch Schockstarre. Entscheider*innen zögern, Entscheidungen zu treffen. Investitionen und Zukunftsinitiativen liegen auf Eis. „Wir müssen jetzt mal abwarten“, scheint die Devise zu sein. Doch wer nur abwartet, bewegt sich nicht in Richtung einer besseren Zukunft, sondern wird zum Spielball der Umstände. Verlieren Menschen die Kontrolle und haben die Überzeugung, nichts an diesem Zustand ändern zu können, führt das zu Passivität und Ohnmacht. „Erlernte Hilflosigkeit“ nennt die Psychologie[3] diesen Zustand.

Doch eins ist bei all der Unsicherheit so sicher wie nie: Die Ungewissheit wird bleiben. Sie ist keine vorübergehende Phase, sondern der neue Normalzustand. Welche Wege gibt es, dieser gefühlten Handlungsunfähigkeit entgegenzutreten?

Szenario-Technik als Instrument für den Umgang mit Ungewissheit

Ein wertvolles Instrument für den Umgang mit Ungewissheit bietet die Zukunftsforschung: Szenarioarbeit. Die Grundidee ist simpel. Wer potentielle Zukunftsszenarien antizipiert, ist besser vorbereitet – und bleibt so handlungsfähig. Mit der Szenariotechnik entwickelt man mehrere gleichermaßen plausible Zukünfte, indem man den Einfluss wesentlicher Einflussfaktoren auf die Zukunft analysiert und mögliche Entwicklungen projiziert. Die Leitfrage dabei lautet: „Was wäre, wenn…“. So entstehen lebendige Bilder möglicher Zukünfte.

In der Auseinandersetzung mit diesen Zukünften werden für Unternehmen Handlungsoptionen sichtbar: Auf welche Zukünfte wollen wir hinsteuern? Welche Entwicklungen wollen und können wir aktiv gestalten – welche versuchen wir dagegen zu verhindern? Und: Auf welche Entwicklungen müssen wir uns auf jeden Fall vorbereiten – unabhängig davon, welches Szenario eintritt? Dabei zeigt sich: Zukunft ist nicht die lineare Fortschreibung der Gegenwart, sondern ein Gestaltungsraum.

„Szenarien sind Geschichten über die Zukunft, aber ihr Zweck liegt darin, bessere Entscheidungen in der Gegenwart zu treffen.“[4]
Ged Davis – ehemaliger Vizepräsident des World Economic Forum und langjähriger Vice President of Global Business Environment bei Shell

Seine Ursprünge hat die Szenariotechnik in der militärischen Planung des 20. Jahrhunderts. Bekannt wurde sie durch die Anwendung bei Shell in den 1960er und 1970er Jahren. Szenarien sollten hier dazu dienen, die Auswirkungen der Ölkrise besser zu verstehen und strategisch handlungsfähig zu bleiben.[5] Ob Siemens[6], DHL[7], Think Tank D2030[8], Boeckler-Stiftung[9] oder Umweltbundesamt[10]: Seither hat die Arbeit mit Szenarien Einzug in die strategische Arbeit von Unternehmen und politischen Institutionen gefunden.

Wer mit diesem Ansatz arbeiten möchte, kann unterschiedliche Wege wählen. Neben dem Aufspannen möglicher Zukünfte entlang für den Unternehmenskontext kritischer Schlüsselunsicherheiten (critical uncertainties) lohnt sich auch ein Blick auf die vier Archetypen der Zukunft („Alternative Futures“[11]), die vom Zukunftsforscher Jim Dator entwickelt wurden. Dator analysierte über Jahre hinweg eine Vielzahl von Zukunftsstudien, politischen und gesellschaftliche Debatten, strategischen Planungen und Science-Fiction-Erzählungen. Dabei stellte er fest: Viele Visionen ließen sich einem von vier Grundmustern einordnen: Kontinuierliches Wachstum (growth), Zusammenbruch (collapse), gesteuerte Disziplinierung (discipline) und disruptive Transformation (transformation). Unternehmen können diese vier prototypischen Zukunftserzählungen nutzen und auf ihren eigenen Kontext anwenden.

Ungeachtet, wie man Szenarien erarbeitet: Es geht dabei immer um folgende Aspekte:

  • Anerkennen, dass unterschiedliche Zukünfte möglich – und damit gestaltbar – sind
  • In den Austausch kommen zu den individuellen Bildern von Zukunft und dadurch neue Möglichkeiten entstehen lassen
  • In eine gemeinsame Bewertung kommen: Welche Aspekte sind für uns wünschenswert – und welche wollen wir versuchen, zu vermeiden? Wie können wir uns bereits heute vorbereiten, ohne zu wissen, welches Szenario tatsächlich eintritt? Kurz: Was können wir tun, um auf die Entwicklungen Einfluss zu nehmen?

Fallbeispiel: Arbeit mit KI-generierten Zukunftsszenarien bei  covolution

Sowohl in Kundenprojekten als auch bei der Weiterentwicklung unserer eigenen Organisation folgen wir einem adaptiven Strategieansatz. Dieser basiert auf der Ausrichtung entlang wünschenswerter Zukünfte, einem ganzheitlichen Strategieverständnis, das Geschäfts- und Organisationsentwicklung integriert, und eine iterativen, auf Lernen ausgerichteten Umsetzung.[12]

Im Januar 2025 haben wir in unserem jährlichen covolution Strategy Retreat unserer Strategie weiterentwickelt. Im Kern haben wir diskutiert, wie wir covolution mittelfristig weiterentwickeln wollen – auch angesichts der Entwicklungen in unserem Umfeld.  Dabei haben wir neben Erkenntnissen aus unserem kontinuierlichen Umfeld-Scouting auch die Szenariotechnik genutzt. Mithilfe von ChatGPT haben wir vier gleichermaßen plausible Szenarien für Deutschland im Jahr 2030 entwickelt. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen.

  • Technologiegetriebene Spitzennation: Deutschland wird führend in Hightech, KI und grüner Technologie, jedoch wächst die soziale Ungleichheit spürbar.
  • Lokalisierte Selbstversorgung: Deutschland setzt auf Resilienz, regionale Wirtschaftskreisläufe und nachhaltige Produktion auf lokaler Ebene.
  • Fragmentierte Gesellschaft: Deutschland erlebt eine wachsende soziale Spaltung zwischen urbanen Wachstumsregionen & ländlichen Gebieten.
  • Nachhaltige Vorbildgesellschaft: Deutschland wird klimaneutral, fördert soziale Gerechtigkeit und etabliert sich als globales Vorbild für Nachhaltigkeit.
Szenario 1: Technologiegetriebene Spitzennation (KI-generiertes Bild, erstellt mit DALL·E von OpenAI)
Szenario 2:
Szenario 2: Lokalisierte Selbstversorgung (KI-generiertes Bild, erstellt mit DALL·E von OpenAI)
Szenario 3: Fragmentierte Gesellschaft (KI-generiertes Bild, erstellt mit DALL·E von OpenAI)
Szenario 4: Nachhaltige Vorbildgesellschaft (KI-generiertes Bild, erstellt mit DALL·E von OpenAI)

Jedes Szenario beschrieb basierend auf den Dimensionen der STEEP-Analyse[13] ein mögliches Deutschland im Jahr 2030 und skizzierte mögliche Folgen für kleine und mittlere Organisationsberatungen wie uns. Diese Szenarien waren die Grundlage für unsere Diskussion über die mittelfristige Zukunft von covolution. Dabei ging es sowohl um die emotionale Auseinandersetzung mit den Inhalten („Was lösen die Szenarien in uns aus?“) als auch um die Frage, welche strategischen Weichenstellungen wir jetzt vornehmen müssen, um uns bestmöglich auf alle vier Szenarien vorzubereiten (”Welche Ziele setzen wir uns?”).

Hier liegt der Clou: Es geht nicht darum, sich sein Lieblingsszenario aussuchen, sondern bestmöglich auf unterschiedliche mögliche Entwicklungen im Umfeld vorbereitet zu sein. Die Frage ist also: Welche strategischen Entscheidungen treffen wir heute, um auch in Zukunft handlungs- und leistungsfähig entlang unseres Purpose zu sein? Aus der Summe dieser Weichenstellungen entsteht ein weiterentwickeltes Bild von covolution – unser Zukunftsbild 2030.   

Die Arbeit mit den Szenarien hat uns dabei geholfen, mögliche zukünftige Entwicklungen zu antizipieren, Handlungsoptionen zu erkennen und entscheidungsfähig zu bleiben. Dabei wurde auch für uns spürbar, dass wir Zukunft gemeinsam gestalten können, wenn wir uns aktiv damit auseinandersetzen, anstatt abzuwarten.

All das stärkt unsere Handlungsfähigkeit als Unternehmen. Wir haben einen klaren Kompass, der uns Orientierung und Zuversicht gibt, selbst in Zeiten maximaler Ungewissheit.

Fazit: Szenarioarbeit fördert organisationale Resilienz

Szenarien sind ein wirksamer Weg, um auch bei hoher Ungewissheit ins Handeln zu kommen. Mit Szenarien können Organisationen Unsicherheit nicht beseitigen. Aber sie können lernen, mit ihr umzugehen. Damit stärken sie ihre organisationale Resilienz und bleiben auch in unwägbaren Umfeldern in Bewegung. Wenn es Entscheider*innen gelingt, Szenarien als festen Bestandteil ihrer Strategiearbeit zu etablieren, dann haben sie ein wertvolles Instrument, um ihre Organisation widerstandsfähiger zu machen und mit ruhiger Hand in die Zukunft zu führen.

Wenn ihr mehr über Szenarien erfahren möchtet oder Lust habt, hierzu in den Austausch zu kommen, sprecht uns gerne an.


Quellen: