Blog · 30.09.2022 · Julia Straub

Vom Ende der Hochleistung

Vom Ende der Hochleistung

Unternehmen stehen in den nächsten Jahren vor der großen (Überlebens-)Aufgabe, ihr Geschäftsmodell regenerativ auszugestalten. Das wird nur dann funktionieren, wenn sie sich jetzt in die Lage versetzen, diese Transformation aus eigener Kraft zu gestalten. Dafür gibt es eine zentrale Voraussetzung: ein Betriebssystem, das regenerativen Prinzipien folgt. Im Kern steht dabei ein anderes Leistungsverständnis: weg von maximaler individueller Effizienz, hin zu langfristiger kollektiver Leistungsfähigkeit. Weg vom extraktiven Verbrauch (menschlicher) Energie, hin zu einem dauerhaft gesunden Wechselspiel zwischen Auf- und Entladen, Geben und Nehmen. Dieser Artikel schlägt einen veränderten Leistungsbegriff vor und skizziert sechs Prinzipien für regenerative Betriebssysteme.

Text: Julia Straub und Hanno Burmester

Echte Zukunftsfähigkeit braucht ein anderes Leistungsverständnis

Stellen Sie sich ein Vorstellungsgespräch vor. Ein*e Bewerber*in für einen Führungsposten wird gefragt: „Welche Rolle spielt Leistung für Sie?“ Und die*der Bewerber*in sagt: „Ich lehne Leistung, wie wir sie heute verstehen, ab.“

Ob so ein Satz auf Begeisterung stößt? Wahrscheinlich nicht. Denn das uneingeschränkte Bejahen von Leistung ist zentral in fast allen Unternehmenskulturen. Kaum vorstellbar, dass Mitarbeitende sich hinstellen und laut sagen: „Ganz ehrlich, vielleicht sollten wir über unser Leistungsverständnis noch mal reden.“

Abschöpfen, so viel man bekommen kann?

Dabei gäbe es allen Grund dafür. Denn die meisten Unternehmen pflegen eine extraktive Leistungskultur. Dabei gehen sie mit der Leistung ihrer Mitarbeitenden so um, wie wir es in unserem Wirtschaftssystem insgesamt mit Ressourcen tun. Es wird abgeschöpft, so viel man bekommen kann. Nicht aus bösem Willen, sondern aus einer gefühlten Zwangslage heraus. Denn der Druck in vielen Unternehmen ist immens. Profitabilität und Produktivität müssen immer weiter steigen. Gleichzeitig ist die Leistungsfähigkeit des*der Einzelnen begrenzt. Dazu kommt der massive Fachkräftemangel.

In dieser Situation erscheinen die besonders Leistungsbereiten unverzichtbar. Sie – so die Überzeugung – muss man unbedingt halten. Alle Aufmerksamkeit gilt ihnen. Man gibt diesen Mitarbeitenden, was sie brauchen, um sie bei der Stange zu halten.

Wer genauer hinschaut sieht, dass das keine dauerhaft sinnvolle Lösung ist. Ein Blick in verfügbare Statistiken zeugt vom menschlichen Preis, den die derzeitige Leistungskultur hat. Die Krankenstände sind hoch, psychische Erkrankungen nehmen seit Jahren massiv zu, Burn-Outs sind an der Tagesordnung. Kein Wunder. Niemand kann bis zum Anschlag arbeiten, auch die besonders Leistungsbereiten nicht. Wer das leugnet, stützt im Kleinen die bequemen Illusionen, die uns im Großen an den Rand der Selbstzerstörung bringen: Extraktion hat keinen Preis. Es ist in Ordnung, Ressourcen zu nutzen und die Regeneration der Folgeschäden denjenigen zu überlassen, die den Nachteil haben.

Die Zukunft wendet sich ab

Vielleicht wäre es also an der Zeit, den Fokus einmal auf diejenigen zu richten, die nicht mehr können. Denn nicht nur sie wenden dem extraktiven Leistungsverständnis den Rücken zu. Auch die Zukunft tut es. Längst verabschieden sich Teile der Millennial-Generation vom herrschenden Leistungsbegriff. Damit greifen sie einem Wandel vor, der ohnehin ansteht. Denn angesichts von Klimakrise, ökologischem Massensterben und der weltweiten sozialen Polarisierung steht die Wirtschaft insgesamt vor einer fundamentalen Transformation.

Es geht jetzt darum, unternehmerisches Handeln so zu gestalten, dass es für Klima, Mensch und nicht-menschliches Leben langfristig gangbar ist. Es reicht nicht, die Produktivität im Kerngeschäft zu erhalten oder zu steigern – es geht darum, das Kerngeschäft grundlegend zu verändern. Schlussendlich stehen Unternehmen also vor der gleichen Aufgabe wie die Gesellschaft als Ganzes: einen grundsätzlich anderen Umgang mit Ressourcen zu entwickeln und zu kultivieren. Das erfordert zwingend ein Leistungsverständnis, das nicht auf der Extraktion von Ressourcen beruht, sondern auf der Regeneration des Systems.

Erstmals in der Geschichte des Kapitalismus lautet die Aufgabe, Geschäfts- und Arbeitsmodelle zu entwickeln, die regenerativ sind. Es gilt, durch das eigene unternehmerische Handeln mehr ins Gesamtsystem zurückzuführen, als das Unternehmen für seine Geschäfte entnimmt. Das beginnt bei der Produktion und Verarbeitung benötigter Rohstoffe – und geht hin bis zum Umgang mit Stakeholdern und Mitarbeitenden.

Regenerative Unternehmen arbeiten anders, nach außen wie nach innen. Sie unterscheiden sich insbesondere aus zwei Perspektiven heraus vom „nachhaltigen Wirtschaften“, wie es heute gemeinhin praktiziert wird.

  1. Erstens geht Regeneration vom Zielbild eines insgesamt positiven ökologisch-sozialen Fußabdrucks aus. Dahinter steht die Annahme, dass wir proaktiv für Regeneration sorgen müssen, um die ökologische Krise bewältigen zu können. Nachhaltigkeit hingegen hat lediglich zum Ziel, den bestehenden Zustand nicht zu verschlimmern.
  2. Zweitens zwingt das Prinzip der Regeneration den Löwenteil aller Unternehmen zur Transformation des Geschäftsmodells. Geschäftsmodelle, deren Profitabilität darauf beruhen, negative Folgekosten auf Dritte zu externalisieren, sind mit dem Gedanken des Regenerativen unvereinbar. Anders sieht es mit Nachhaltigkeit aus, die heute an vielen Stellen als Ablasshandel funktioniert. Das Kerngeschäft mit seiner extraktiven Grundlogik bleibt unangetastet, während zum Ausgleich CO2-Zertifikate und ähnliche Produkte gekauft werden, um den negativen unternehmerischen Fußabdruck auszugleichen.

Regeneratives Wirtschaften ist die Investition in eine lebenswerte Zukunft, verbunden mit dem bewussten Verzicht auf realisierbare Profite in der Gegenwart. Das ist insbesondere für Großkonzerne, die nach wie vor von kurzfristiger Profitmaximierung getrieben sind, ein krasser Bruch. Gleichzeitig entsteht auch für sie zunehmend Handlungszwang. Durch die absehbare politische Regulierung wird das, was vor zehn Jahren noch wie ökologischer Utopismus geklungen haben mag, für die Breite der Unternehmen zukünftig der maßgebliche Weg sein, um langfristig am Markt bestehen zu können.

Regenerative Geschäftsmodelle brauchen regenerative Betriebssysteme

Was hat das jetzt mit Leistung zu tun? Wer einen regenerativen Umgang mit externen Ressourcen anstrebt, muss dafür zuerst die Grundlagen im eigenen Unternehmen schaffen. Der erste Schritt in Richtung regeneratives Wirtschaften ist ein regenerativer Umgang mit den internen Ressourcen – mit den eigenen Mitarbeitenden. Dafür muss sich das Leistungsverständnis verändern: weg vom extraktiven Verbrauch (menschlicher) Energie zugunsten maximaler Effizienz im Business as usual, hin zu einem dauerhaft gesunden Wechselspiel zwischen Auf- und Entladen, Geben und Nehmen. Das geht dann, wenn die gemeinsame Fokussierung aufs Wesentliche gelingt, und damit das Umschwenken von Effizienz auf Effektivität.

Wer ein regeneratives Geschäftsmodell will, braucht ein entsprechendes Betriebssystem als Fundament. Es gilt, Strukturen und Prozesse zu schaffen, die Regeneration ermöglichen, Kompetenzen aufzubauen, um Regeneration zu fördern, sowie eine Kultur zu entwickeln, die Regeneration als Wert priorisiert. Ein solches Betriebssystem ist wie ein Fraktal: im Kleinen wird das erlebbar, was im Großen entstehen soll. Im Unternehmen wird im Alltag spürbar, was regeneratives Wirtschaften für den Einzelnen und die Gemeinschaft bedeutet.

Sechs Prinzipien für regenerative Betriebssysteme

Wie regenerative Betriebssysteme aussehen können – dafür gibt es keine Blaupause. Es ist Aufgabe der kommenden Jahre, möglichst viele erlebbare Beispiele zu schaffen. Unternehmen sind hier, wie die Gesellschaft insgesamt, in einem Lernprozess. Sie müssen deshalb durch Experiment und Erfahrung herausfinden, wie regenerative Betriebssysteme aussehen und gelingen können.

Gleichzeitig glauben wir, dass einige Eckpfeiler regenerativer Organisationen schon heute beschreibbar sind. Folgende sechs Prinzipien halten wir für besonders wichtig, um die Entwicklung in eine zukunftsfähige Richtung zu befördern.

Prinzip 1: Co-Kreation und gemeinsame Leistungsverantwortung

Co-Kreation zielt darauf, gemeinsam durch komplementäre Perspektiven und Stärken bessere Lösungen zu entwickeln als jede*r Einzelne das allein könnte. Co-Kreation beginnt bei einem gemeinsam gesetzten Ziel und führt über klare Rollen und Arbeitsroutinen zu gemeinsamer Leistungsverantwortung. Das ist die Voraussetzung dafür, dass jede*r Mitarbeitende Verantwortung übernimmt für die „internen“ und „externen“ Folgekosten des unternehmerischen Handelns.

Prinzip 2: Selbstorganisation und funktionale Dezentralität

Selbstorganisation bedeutet, dass ein System seine Strukturen und Arbeitsweisen selbst definiert und weiterentwickelt. Statt einer Schaltzentrale gibt es viele mitdenkende und entscheidungsfähige dezentrale Einheiten. Das ist nicht nur Voraussetzung für intelligente, adaptive Selbststeuerung der Organisation in Antwort auf eine sich verändernde Umwelt. Diese Dezentralität ist auch wichtig für effektive Regeneration, die immer ungleichzeitig und hochgradig dezentral vor sich geht.

Prinzip 3: Entwicklung als bewusstes Ziel und Dauerzustand verstehen

Bewusst entwicklungsorientierte oder evolutionäre Organisationen verstehen sich als lebenden Organismus. Ziel ist eine Organisation, die kontinuierlich reift und damit wirksamer wird. Das ist wichtige Voraussetzung, um die Entwicklung hin zum regenerativen Unternehmen gehen zu können. Schließlich weiß heute niemand, wie genau der Zielzustand aussieht. Umso wichtiger ist die bewusste, laufende Entwicklung entlang des Delta zwischen Ist und Ambition, Schritt für Schritt.

Prinzip 4: Stille Wandlungen würdigen

Wer die eigene Entwicklung als Teil des Kerngeschäfts versteht, braucht einen Sinn für die stillen und doch fundamentalen Wandlungen der Organisation und der*des Einzelnen. Heute jagt in Unternehmen oft ein Veränderungsprogramm das nächste. Es fehlt an Zeiten, in denen Impulse wirken und sich das Neue ausbilden kann. Um ein regeneratives Betriebssystem zu entwickeln, ist es wichtig, Veränderungsimpulse zu entzerren und Raum für Reflexion, Dialog und inneres Wachstum einzuräumen.

Prinzip 5: Langfristig durchhaltbare Rhythmen finden

Extraktive Kulturen nehmen, was sie kriegen können, sie fördern also Erschöpfungszustände. Entsprechend werden Lern- und Entwicklungsphasen dort als Ausnahmen verstanden, die zusätzlich zum Alltag hin und wieder abgewickelt werden müssen. Regenerative Kulturen suchen hingegen nach einem Entwicklungsrhythmus, der langfristig trägt (Siehe Prinzip 3). Dazu gehört, das Streben nach dem gleichförmigen, kontrollierbaren Takt der Industriezeit hinter sich zu lassen – und stattdessen einen kollektiven Arbeitsrhythmus zu entwickeln, der von Individuum zu Individuum und Einheit zu Einheit höchst unterschiedlich klingen kann. Ein Rhythmus, der auch Pausen und Entschleunigung einpreist, weil sie Voraussetzung sind für Kreativität, Entwicklung und Fortbestand. Echte Regeneration braucht viele kleine, eigenverantwortliche Ausgleichsbewegungen im Alltag.

Prinzip 6: Aufs Kollektiv fokussieren, nicht nur die Einzelnen

Eine regenerative Organisation entsteht nicht durch eine Vielzahl individuell zugeschnittener Kompensationsmaßnahmen und „Goodies“ für die Mitarbeitenden. Stattdessen braucht es intelligente, kollektive Steuerungssysteme, die präventiv wirken und Kompensation im besten Fall überflüssig machen. Der Spieß dreht sich um: weg von einem Verständnis, das Leistung als Summe des individuell Erbrachten begreift. Hin zu einer Kultur, die Leistung als Ergebnis gemeinsamer Ausrichtung und Entwicklung erkennt. Das hat weitreichende Auswirkungen auf Strukturen und Prozesse: Wie messen und honorieren wir Leistung? Wie befördern wir Entwicklung und Lernen? Knallharte Fragen, die an den unternehmerischen Kern gehen.

Unternehmen, denen es gelingt, eine regenerative Leistungskultur zu etablieren, haben die besten Voraussetzungen, um auch im Außen regenerativ zu wirtschaften. Denn anders als bislang hat dann jede*r Mitarbeiter*in den Sinn dieser Transformation durch das eigene Erleben begriffen – und zudem die Zuversicht und das Zutrauen entwickelt, den Weg gemeinsam erfolgreich gehen zu können. Sinn, Zuversicht und Zutrauen – diese Trias ist deutlich kraftvoller als die Angst vor dem Untergang. Im Kleinen wie im Großen.


Zu den Autor*innen:

Julia Straub ist Organisationsentwicklerin bei covolution und begleitet Organisationen in Transformationsprozessen.

Hanno Burmester ist Organisationsentwickler und Autor mehrerer Bücher, zuletzt Unlearn. A Compass for Radical Transformation (2021). www.unlearn.eu


Das PDF zum Artikel findet ihr hier.